Abgedruckt in der Weltwoche vom 23. April 2020
In letzter Zeit haben wir viel über Schweden gelesen: Schweden als Sonderfall, Schweden ohne Shutdown, kann das gut gehen? Zuerst war da ein grosses Erstaunen, dass ein europäisches Land es wagt, sich gegen den internationalen Mainstream zu stellen und die Wirtschaft sowie das gesellschaftliche Leben nicht komplett lahmzulegen. Ausgerechnet Schweden, der Leuchtturm aller Freunde des starken und fürsorglichen Staates. Die Medien und Politik hierzulande waren entsetzt. Dann begannen sie – fast mit hämischer Schadenfreude – die Ansteckungsraten in Schweden zu beobachten und zu kommentieren und den baldigen Kollaps des Landes herbei zu schreiben.
Mich hingegen hat Schweden fasziniert. Einerseits weil es den Alleingang wagte, aber auch, weil dort die Restaurants, die Kinos und Fitnesscenter noch offen waren. Meine Philosophie ist es, immer dorthin zu gehen, wo man vom Staat am besten behandelt wird. Dieses «Abstimmen mit den Füssen» ist meines Erachtens eine wichtige und unterschätzte Ergänzung zur demokratischen Kontrolle.
Also buchte ich den nächstmöglichen Flieger nach Stockholm und machte mich auf die Reise ins Ungewisse. Mein politisches Umfeld bewunderte den Entscheid, das nicht-politische war skeptisch: «ausgerechnet in das Land, wo die Ansteckungsraten durch die Decke gehen» – was natürlich so nicht stimmte, aber dem Stimmungsbild in der Schweiz entsprach.
Doch was ich in Schweden antraf, war noch angenehmer als ich erwartet habe. Klar halten die Leute Abstand und desinfizieren die Hände. Aber sie tun dies mit einer stoischen Gelassenheit und nicht mit der panisch bis aggressiven Art, der durch den Shutdown zermürbten und durch die Medien verunsicherten Schweizer.
Doch was denkt die Bevölkerung über den Alleingang ihres Landes? Ich habe dazu keine wissenschaftliche Studie gemacht, sondern persönliche Gespräche geführt, unter anderem mit einem Biologen der Universität Uppsala aber auch mit unterschiedlichen Personen, die man halt so antrifft, wenn man durch das Land reist. «Die Bevölkerung vertraut der Regierung», lautete der Tenor. «Die Einzigen, die hier Masken tragen und Panik schieben, sind die Ausländer, welche durch ihre Medien zuhause in Angst und Schrecken versetzt werden».
Das ist an sich nichts Besonderes, aber es zeigt eben einen wichtigen Punkt: Obwohl alle mit demselben Virus zu kämpfen haben und alle dieselben Daten- und Faktenbasis haben, lebt die schwedische Bevölkerung in einer komplett anderen Realität als der Rest von Europa, und beide Seiten sind der Überzeugung, dass ihre Realität die Richtige sei.
Dabei ist es meiner Meinung nach nicht so, dass die schwedischen Bürger kritischer sind oder als einzige selber denken. Sie laufen einfach einem anderen Hirten nach und in die entgegengesetzte Richtung. Dies ist eine Tendenz, die mir auch schon öfter aufgefallen ist, bei Personen, die sehr skeptisch sind gegenüber Mainstream-Medien und der «Lügenpresse»: Dass sie anderseits sehr unkritisch ihren eigenen Quellen Glauben schenken und sich ihre eigene Realität zimmern. Dabei heisst kritisches Denken nicht nur den politischen Mainstream zu hinterfragen, sondern insbesondere auch immer wieder sein eigenes Umfeld und seine eigenen Vorurteile infrage zu stellen.
Ich hoffe, dass der Fall Schweden mit seiner eigenen kleinen Massenpsychose (die sich in diesem Fall sehr positiv auf die Lebensqualität ausgewirkt hat) den einen oder anderen anregt – zum Nachdenken über die eigene Realität.